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Hype ohne Substanz. Warum Spiral Dynamics und Reinventing Organizations bei OKR-Einführungen fehl am Platz sind

Veröffentlicht am
1.11.2024

In der heutigen Geschäftswelt stehen viele Unternehmen vor der Herausforderung, agiler und zielgerichteter zu arbeiten. Die Einführung von OKR (Objectives and Key Results) ist in diesem Kontext zu einer beliebten Vorgehensweise geworden, um strategische Ausrichtungen und operative Maßnahmen miteinander zu verknüpfen. Allerdings stoßen Organisationen bei der Implementierung häufig auf Hindernisse – kulturelle Widerstände, Missverständnisse über die Rolle von OKR und Herausforderungen im Bereich der Verantwortlichkeiten sind nur einige Beispiele. Um diese Schwierigkeiten zu erklären und zu überwinden, greifen viele Berater und Führungskräfte dann auf Modelle wie Spiral Dynamics und Reinventing Organizations zurück. Die Vorstellung einer evolutionären „Reifung“ von Organisationen und deren „Bewusstseinsebenen“ soll helfen, das „richtige“ Mindset für eine erfolgreiche OKR-Einführung zu schaffen.

Doch dieser Ansatz ist problematisch: Die Annahme, dass eine Organisation „reifer“ oder „entwickelter“ sein muss, um OKR erfolgreich zu implementieren, ist wissenschaftlich nicht belegt und kann sogar kontraproduktiv wirken. In vielen Fällen wird durch diese Sichtweise eher Druck auf Mitarbeitende ausgeübt, sich „weiterzuentwickeln“, anstatt strukturelle und kommunikative Maßnahmen zu ergreifen, die die tatsächlichen Herausforderungen bei der Einführung von OKR adressieren. In diesem Artikel analysieren wir, warum Spiral Dynamics und Reinventing Organizations als Erklärungsmodelle in solchen Situationen fragwürdig sind und wie sie nicht nur von den eigentlichen Problemen ablenken, sondern diese sogar verschärfen können.

1. Worum gehts?

Spiral Dynamics und Reinventing Organizations gehören zu den populärsten Konzepten in der Welt der Organisationsentwicklung und des Leaderships. Beide Modelle behaupten, den evolutionären Reifeprozess von Individuen, Organisationen und sogar ganzen Gesellschaften beschreiben und fördern zu können. Spiral Dynamics, ursprünglich entwickelt von Don Beck und Christopher Cowan auf Grundlage der Arbeiten des Psychologen Clare W. Graves, klassifiziert die menschliche Entwicklung in verschiedene „Ebenen“ oder „Memes“, die angeblich evolutionäre Fortschritte darstellen. Frederic Laloux knüpft in seinem Buch Reinventing Organizations an diese Ideen an und erweitert sie in Richtung einer „teal organization“ – einer Organisation auf höchstem Reifestand. Trotz ihrer Beliebtheit und Verbreitung in der Beraterwelt gibt es jedoch zahlreiche wissenschaftliche Bedenken, die zeigen, dass diese Konzepte problematische Grundannahmen haben und methodologisch fragwürdig sind.

2. Grundannahmen von Spiral Dynamics und Reinventing Organizations

Zunächst einmal basiert Spiral Dynamics auf der Vorstellung, dass Menschen und Gesellschaften in festgelegten „Bewusstseinsebenen“ aufsteigen. Diese Ebenen – die von „beige“ (stark individualistisch und von Überlebensinstinkten geprägt) bis hin zu „teal“ (kollaborativ und integral) reichen – werden in Spiral Dynamics als universell und naturgegeben verstanden. Diese Vorstellung einer linear-progressiven Evolution des Bewusstseins wird von Laloux im Rahmen von Reinventing Organizations aufgenommen und konkretisiert. Hierbei wird angenommen, dass Organisationen, die „teal“ erreicht haben, nahezu perfekte, selbstorganisierte Systeme sind, in denen Macht dezentralisiert ist und Innovation sowie Kreativität gefördert werden.

Wissenschaftlich betrachtet, handelt es sich jedoch um eine äußerst spekulative und vereinfachte Sichtweise auf menschliches Verhalten und soziale Strukturen. Die Annahme, dass sich Menschen und Organisationen auf eine eindimensionale Weise entwickeln, ignoriert die Komplexität von psychologischen und sozialen Dynamiken. Der Gedanke, dass eine Ebene der „Wahrheit“ oder der „höheren Entwicklung“ existiert, stellt eine normative Vorstellung dar, die wissenschaftlich schwer haltbar ist. Es ist eher eine idealisierte Philosophie als eine empirisch fundierte Theorie.

3. Methodologische Schwächen und das Fehlen empirischer Validierung

Ein zentraler Kritikpunkt an Spiral Dynamics und Reinventing Organizations ist das Fehlen solider empirischer Beweise. Spiral Dynamics wurde nie systematisch wissenschaftlich getestet; die Beschreibungen der Entwicklungsstufen basieren vor allem auf Anekdoten und subjektiven Eindrücken der Entwickler. Eine wissenschaftliche Theorie muss jedoch testbare Hypothesen aufstellen und diese durch reproduzierbare Experimente bestätigen lassen. Diese wissenschaftliche Grundlage fehlt in beiden Modellen. Anstelle von empirischen Untersuchungen werden die Ansätze oft durch selektiv eingesetzte Fallbeispiele gestützt, was zu einem sogenannten „Bestätigungsfehler“ führt. Beispiele von erfolgreichen „teal organizations“ könnten daher schlichtweg den Erfolg bestimmter individueller Organisationskulturen widerspiegeln und keine allgemeingültige Aussage über die Überlegenheit des Modells erlauben. Zudem sind einige - in Reinventing Organizations genannten Beispiele - entweder schon nicht mehr existent oder haben sich für ein andere Organisationsmodell - weg von "teal" entwickelt.

Ein weiteres methodisches Problem liegt in der Anwendung der Modelle. In Spiral Dynamics und Reinventing Organizations wird suggeriert, dass Menschen und Organisationen auf spezifischen Stufen „steckenbleiben“ oder sich „weiterentwickeln“ können. Diese Festlegung widerspricht jedoch dem aktuellen psychologischen Verständnis von Entwicklungsprozessen, die als komplex und dynamisch gelten. Die Idee, dass Menschen einer festen Hierarchie folgen, widerspricht zum Beispiel dem Konzept der sozialen Konstruktion von Werten und Verhaltensweisen. Menschen bewegen sich vielmehr in einem Geflecht von sozialen Einflüssen, persönlichen Erfahrungen und kulturellen Faktoren, die nicht linearen Fortschrittsmodellen folgen.

4. Kritik an der Anwendung und Ideologie

Ein weiteres kritikwürdiges Element in beiden Konzepten ist der normative Charakter. Sowohl Spiral Dynamics als auch Reinventing Organizations vermitteln implizit die Idee, dass ein Aufstieg durch die Ebenen oder eine Entwicklung zur „teal organization“ wünschenswert und letztlich das Ziel sein sollte. Diese Idealisierung führt dazu, dass Organisationen, die nicht „teal“ sind, als rückständig dargestellt werden. Dies kann zu einem Druck führen, Veränderungen vorzunehmen, die nicht organisch zur Organisation passen. Beispielsweise könnten Unternehmen, die versuchen, plötzlich selbstorganisierte Teams einzuführen, ohne die bestehende Kultur und die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeiter zu berücksichtigen, mit Schwierigkeiten konfrontiert werden. Die normative Ausrichtung der Modelle erzeugt damit eine Art „Moralismus“, der Wissenschaftlichkeit vorenthalten bleiben sollte.

Des Weiteren lässt sich argumentieren, dass die Modelle eine Art von utopischem Denken fördern, das in der Praxis schwer zu realisieren ist. Laloux beschreibt in Reinventing Organizations Unternehmen wie Buurtzorg und Morning Star als Beispiele für „teal organizations“, jedoch ist nicht klar, inwieweit diese Strukturen auf breiter Basis skalierbar sind. Es gibt kaum empirische Beweise dafür, dass diese Organisationsformen in unterschiedlichen kulturellen oder branchenspezifischen Kontexten langfristig erfolgreich sind.

5. Vernachlässigung alternativer Erklärungsansätze

Die Modelle von Spiral Dynamics und Reinventing Organizations erwecken den Eindruck, dass die Entwicklungen von Menschen und Organisationen einem strengen evolutionären Prozess unterliegen. Dabei werden jedoch alternative Theorien und Ansätze in der Organisationspsychologie vernachlässigt, die oft eine differenziertere Betrachtung bieten. Die Systemtheorie, komplexe adaptive Systeme und moderne Ansätze der sozialen Psychologie bieten eine Vielzahl von Modellen, die die Vielfalt und Komplexität menschlichen und organisatorischen Verhaltens aufzeigen, ohne auf vereinfachte Entwicklungsstufen zurückzugreifen.

Zudem könnte die Tendenz, Organisationen nach ihrer „Reifestufe“ zu kategorisieren, dazu führen, dass subtile Dynamiken, wie etwa die Machtverhältnisse, kulturelle Unterschiede und individuelle Differenzen, übersehen werden. Viele Organisationen, die sich als „teal“ oder fortgeschritten bezeichnen, könnten Probleme und Konflikte verdrängen, da eine idealisierte Selbstdarstellung wichtiger erscheint als eine ehrliche Auseinandersetzung mit den realen Herausforderungen.

6. Der Wunsch nach einfachen Erklärungen

Auch hier zeigt sich wieder die Sehnsucht von uns Menschen, möglichst einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte zu erhalten. Sowohl Spiral Dynamics als auch Reinventing Organizations sind extrem anschlussfähig und erzeugen den Eindruck, dass Organisationen, wenn sie sich nur „weiterentwickeln“ oder die „richtige“ Bewusstseinsebene erreichen, viele ihrer Probleme quasi von selbst lösen könnten. Die Modelle wirken verführerisch, weil sie versprechen, dass komplexe Herausforderungen, wie die Einführung von OKR, letztlich auf eine Frage des Mindsets oder der Organisationsreife reduziert werden können.

Diese Simplifizierung führt jedoch oft dazu, dass tatsächliche strukturelle und praktische Herausforderungen vernachlässigt werden. Statt sich mit spezifischen organisatorischen oder kulturellen Hindernissen auseinanderzusetzen, richten Unternehmen ihren Fokus auf abstrakte Konzepte wie „Bewusstseinsebenen“ oder „Reifestufen“. Das kann problematisch sein, da es die Illusion erzeugt, man könnte durch eine pauschale Transformation der Unternehmenskultur sofortige Fortschritte erzielen, ohne konkrete, auf die Organisation abgestimmte Maßnahmen zu entwickeln.

Die Beliebtheit solcher Modelle liegt auch darin begründet, dass sie Führungskräften eine Art moralische Autorität verleihen. Wenn eine Organisation nicht den gewünschten Erfolg erzielt, wird dies oft der angeblich „niedrigen“ Entwicklungsstufe der Mitarbeiter oder Teams zugeschrieben, anstatt die Angemessenheit der Methoden und Prozesse zu hinterfragen. Das kann den Druck auf Mitarbeiter erhöhen und eine Kultur der Schuldzuweisung fördern, anstatt echtes Wachstum und effektive Problemlösungen voranzutreiben. Letztlich können diese „einfachen Erklärungen“ dazu führen, dass Organisationen in eine Denkfalle tappen und den Fokus vom eigentlichen Ziel – einer nachhaltigen, praktikablen OKR-Umsetzung – ablenken.”


7. Fazit: Warum Spiral Dynamics und Reinventing Organizations bei OKR-Einführungen fehl am Platz sind

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Spiral Dynamics und Reinventing Organizations auf Annahmen beruhen, die empirisch nicht belegt und methodisch problematisch sind. Besonders in Verbindung mit der Einführung von OKR können diese Modelle irreführend sein. Sie lenken von den konkreten praktischen Herausforderungen ab, indem sie suggerieren, dass die „Reife“ der Organisation oder das „Bewusstseinsniveau“ der Mitarbeitenden entscheidend für den Erfolg von OKR sei. Diese Annahme kann sogar schädlich sein, weil sie dazu führt, dass Führungskräfte und Teams ihre Bemühungen auf eine vermeintliche Persönlichkeits- oder Organisationsentwicklung fokussieren, anstatt pragmatische Lösungen für strukturelle und kulturelle Hindernisse zu finden.

Die Einführung von OKR erfordert keine spirituelle oder evolutionäre „Reifung“, sondern ein klares Verständnis für die Ziele der Organisation, transparente Kommunikation und konkrete Methoden zur Zielsetzung und Messung.

Zudem ist es wichtig, die Organisation systemtheoretisch zu beobachten, um herauszufinden, welche spezifischen Kommunikationsstrukturen, Entscheidungsprozesse und Abhängigkeiten innerhalb des Unternehmens die erfolgreiche Implementierung von OKR tatsächlich beeinflussen. Eine systemische Perspektive ermöglicht es, die Organisation als ein Netzwerk aus miteinander verknüpften Elementen zu betrachten, die sich in ständiger Wechselwirkung befinden. So lassen sich konkrete Stellhebel und Reibungspunkte identifizieren, die maßgeblich für das Gelingen oder Scheitern der OKR-Einführung sind.

Durch diesen systemorientierten Ansatz können Führungskräfte und Teams gezielt intervenieren, ohne sich auf eine ideologische Weiterentwicklung oder auf starre Reifestufen konzentrieren zu müssen. Vielmehr geht es darum, die Bedingungen zu schaffen, unter denen sich zielorientierte Prozesse entfalten können. Dazu zählen etwa klare Rollendefinitionen, transparente Zielhierarchien und regelmäßige Feedbackzyklen, die sicherstellen, dass alle Mitarbeitenden dieselbe Vision teilen und aktiv zur Umsetzung beitragen können.

OKR-Implementierungen scheitern oft an mangelnder Klarheit und Struktur – und nicht an einem vermeintlich unentwickelten „Bewusstsein“. Wissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei Spiral Dynamics und Reinventing Organizations um normativ aufgeladene Modelle, die mehr idealistische Philosophie als wissenschaftlich fundierte Theorie sind. Ein soliderer Ansatz zur Lösung der tatsächlichen Probleme bei der OKR-Einführung ist daher notwendig, um Organisationen praxisnah und zielgerichtet zu unterstützen. Ein systemtheoretischer Ansatz bietet hier eine fundierte, analytische Basis, um Organisationen dabei zu helfen, OKR realistisch und nachhaltig zu integrieren – ohne auf fragwürdige Bewusstseinsmodelle zurückzugreifen.”

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