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Theorie und Praxis: Ein untrennbares Paar

Veröffentlicht am
19.8.2024

(Bild wurde mit ChatGPT erzeugt, Text wurde ohne Hilfe von KI erstellt)

Ein ewiges Spannungsfeld

„Lass uns die Theorie überspringen und direkt in die Praxis einsteigen!“ – Wie oft haben wir diesen Satz schon gehört? Die Vorstellung, dass Theorie und Praxis zwei voneinander getrennte Welten sind, ist tief in vielen Köpfen verankert. Die Theorie, so der Vorwurf, sei zu abstrakt, zu weit weg von der Realität. Die Praxis hingegen wird oft als der eigentliche Ort des Geschehens angesehen, wo „die Dinge wirklich passieren“. Doch dieser Dualismus ist nicht nur ungenau, er kann sogar gefährlich sein, wenn er zu Handlungen führt, die ohne ausreichendes theoretisches Fundament getroffen werden.  

Denken fördern oder Denken abschalten?

Der Einwand, ein Vorschlag sei in der Theorie zwar richtig, aber in der Praxis nicht umsetzbar, gehört zu den beliebtesten Totschlagargumenten – und offenbart zugleich eine gewisse Abneigung, den eigenen Verstand wirklich einzusetzen. Natürlich kann eine Theorie falsch sein, aber wenn sie korrekt ist, kann sie in der Praxis nicht einfach scheitern. Eine Theorie, die in der Praxis nicht funktioniert, ist entweder falsch, unvollständig oder für den konkreten Fall nicht geeignet. Die Ablehnung von Theorien durch viele sogenannte “Praktiker” ist nicht nur eine harmlose Eigenart, sondern tatsächlich kontraproduktiv und schädlich. Theorien sind für eine erfolgreiche Praxis viel zu wertvoll, um sie vorschnell beiseite zu schieben.

Theorie und Praxis – keine Gegensätze, sondern Ergänzungen

Der scheinbare Gegensatz zwischen Theorie und Praxis wird oft zu stark betont. In Wahrheit ergänzen sich beide. Jede Praxis basiert auf theoretischen Annahmen, sei es bewusst oder unbewusst. Wenn wir eine bestimmte Entscheidung treffen, dann geschieht das nicht im luftleeren Raum. Unsere Überzeugungen, unsere Erfahrungen und das Wissen, das wir uns im Laufe der Zeit angeeignet haben, fließen in jede unserer Handlungen ein. Theorie ist also nicht das Gegenteil von Praxis, sondern die Grundlage für sinnvolle Praxis. Die Unterscheidung von Theorie und Praxis macht blind, dass jedem Handeln eine Erkenntnis zugrunde liegt und jeder (theoretische) Gedanke eine Handlung darstellt.

Betrachten wir das Beispiel eines Sportlers: Ein Weitspringer hat bestimmte Techniken, die er während seines Sprungs anwendet. Diese Techniken basieren auf physikalischen Prinzipien, auch wenn der Sportler nicht jedes Mal bewusst darüber nachdenkt. Die Praxis – der eigentliche Sprung – ist eine Umsetzung dieser theoretischen Grundlagen. Würde der Athlet die physikalischen Grundlagen ignorieren, wären seine Sprünge wahrscheinlich weniger erfolgreich.

Nun muss jedoch unterschieden werden: handelt es sich wirklich um einen Komplexen Zusammenhang oder lediglich um einen Kausalen/Komplizierten Zusammenhang, welcher keine Theorie benötigt?

Kompliziertheit und Komplexität – Zwei Welten der Praxis

Bei kausalen Zusammenhängen braucht man (in der Anwendung) keine Theorie, um wirksam zu einer Lösung zu kommen. Sie sind Teil der komplizierten Welt. Bei Problemen der komplexen Welt wird die Theorie jedoch benötigt.

In vielen Bereichen unseres Lebens, insbesondere in den Naturwissenschaften und der Technik, können wir mit Kausalität arbeiten: Ursache und Wirkung sind klar zu erkennen, und durch wiederholte Experimente können wir zuverlässige Ergebnisse erzielen. Ein Ingenieur, der eine Brücke plant, kann sich auf die bekannten physikalischen Gesetze verlassen, um sicherzustellen, dass die Brücke stabil ist. Hier ist die Theorie oft so stark verankert, dass sie fast unsichtbar wird – sie ist Teil des allgemeinen Wissens, auf das jeder zugreift.

Doch sobald wir uns in die Welt der Komplexität begeben, ändert sich das Bild. Komplexe Systeme – seien es Organisationen, soziale Netzwerke oder die menschliche Psyche – lassen sich nicht so einfach in Ursache-Wirkungs-Beziehungen zerlegen. Hier greift die einfache Logik der Kausalität nicht mehr, und Theorie wird zu einem unverzichtbaren Werkzeug, um in der Praxis sinnvolle Handlungen abzuleiten.

Ein Beispiel aus der Praxis kann dies verdeutlichen: In einer Organisation mit rund 70 Mitarbeitenden wurde immer wieder bemängelt, dass die Teeküche ständig in einem chaotischen Zustand war. Trotz vieler Versuche, dieses Problem durch einfache Regeln oder Appelle an die Mitarbeitenden zu lösen, änderte sich nichts. Erst als ein agiler Coach die Idee einbrachte, ein Stofftier als „Motivator“ einzusetzen – wer das Stofftier auf seinem Schreibtisch vorfand, war für Ordnung in der Küche zuständig (wenn er/sie das wollte) – änderte sich das Verhalten der Mitarbeitenden. Man konnte sich für das Aufräumen selbst Punkte geben und das Stofftier dann auf einem anderen Schreibtisch platzieren. Am Anfang der Woche wurde ein Wanderpokal an den Mitarbeitenden gegeben, der/die die meisten Punkte hatte. Das Stofftier wurde so also zu einem Symbol, das die notwendige Ordnung förderte, ohne dass starre Regeln nötig waren.

Interessanterweise gelang diese Dynamik in keiner anderen Organisation, die den selben Ablauf verwendete. Dieses Beispiel zeigt, dass komplexe Systeme oft unerwartete und kreative Lösungen erfordern, die auf einem tiefen Verständnis der Dynamiken innerhalb des Systems basieren.

Die Bedeutung der Theorie in komplexen Systemen

In der Begleitung und Entwicklung von Organisationen ist theoretisches Wissen von entscheidender Bedeutung. Organisationen sind komplexe, dynamische Systeme, die nicht einfach durch direkte Eingriffe gesteuert werden können. Die Systemtheorie, insbesondere in der Ausprägung von Niklas Luhmann, bietet hier wertvolle Einsichten. Luhmann beschreibt Organisationen als soziale Systeme, die durch Kommunikation und Entscheidungen strukturiert werden. Diese Systeme sind selbstreferentiell, das heißt, sie erzeugen und reproduzieren ihre eigenen Elemente, wie zum Beispiel ihre Regeln und Strukturen. Und diese sind oftmals mehr als kontra-intuitiv (da Intuition letztlich nur „schnelles Denken“ ist und dieses sich an Vergangenheitserfahrungen und Wissen orientiert, welche in komplexen Situationen oftmals nicht anwendbar sind).

In solchen komplexen Systemen zeigt sich die Stärke der Theorie: Sie hilft uns, die Vielzahl an Möglichkeiten zu verstehen, die in einem bestimmten Moment zur Verfügung stehen. Sie bietet Modelle und Konzepte, um die Dynamiken innerhalb eines Systems zu erkennen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Ohne dieses theoretische Fundament würden wir Gefahr laufen, uns in der Komplexität zu verlieren oder – noch schlimmer – Entscheidungen zu treffen, die das System destabilisieren, anstatt es zu stärken.

Warum Theorie und Praxis nicht getrennt werden können

Theorie und Praxis sind also zwei Seiten derselben Medaille. Jede praktische Handlung basiert auf theoretischen Überlegungen, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Umgekehrt liefert die Praxis wertvolle Erkenntnisse, die in die Weiterentwicklung von Theorien einfließen. Dieser ständige Wechsel zwischen Theorie und Praxis ist der Motor des Fortschritts, sowohl in der Wissenschaft als auch in der alltäglichen Praxis.

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, Theorie als bloße „Gedankenspielerei“ abzutun. In Wirklichkeit ist Theorie ein unverzichtbares Werkzeug, um die Komplexität der Welt zu navigieren. Gerade in Bereichen, in denen einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen nicht ausreichen, bietet die Theorie die notwendige Orientierungshilfe. Sie hilft uns, die richtigen Fragen zu stellen, Hypothesen zu formulieren und systematisch vorzugehen.

Selbst denken in Komplexität

Die grundsätzliche Idee des Taylorismus (und am Ende des Aristoteleschen Denkmodells der Metaphysik, das unser Denken seit ca. 2200 Jahren bis heute prägt) war es, Denken (Theorie) und Handeln (Praxis) zu trennen. Das funktioniert in komplizierten Umgebungen recht gut, denn man muss in der Praxis nur das Wissen zur Anwendung haben, welches andere vorgedacht (Theorie) haben. Niemand muss wissen, wieso ein Lichtschalter funktioniert – lediglich das Wissen, dass das Licht an- und wieder ausgeht, wenn man diesen drückt.

In der Domäne des Komplexen ist dies aber genau konträr: Die Trennung von Theorie und Praxis verkennt, dass jedem Handeln eine Erkenntnis zugrunde liegt und jeder theoretische Gedanke bereits eine Handlung darstellt. Die in der Beraterwelt häufig gestellte Frage „Was bringt mir das für die Praxis?“ übersieht, dass theoretische Überlegungen erst dann praxisrelevant werden können, wenn sie zu eigenen Überlegungen werden.

Wissen kann nicht einfach importiert werden. Wenn ich einem Vortrag zuhöre, muss ich die Inhalte selbst durchdenken und lernen, sonst bleiben sie für meine Praxis irrelevant. Wenn ich lediglich die Handlungsempfehlungen aus einer fremden Theorie übernehme, werde ich zum bloßen Nachahmer, der Rezepte befolgt und Gebrauchsanweisungen ausführt. Doch ohne eigene Theorie habe ich auch keine eigene Praxis. Ich weiß weder wirklich, was ich tue, noch tue ich etwas, das ich wirklich verstanden habe.

Deshalb ist vermeintlich leicht verständliche Theorie so gefährlich: Sie erzeugt die Illusion von Verständnis, ohne dass eigenes Denken erforderlich ist. Man merkt sich nur etwas, aber Gedächtnis allein schafft keine eigenen Gedanken. Dies führt zu einer unreflektierten Praxis, die sich darauf beschränkt, irgendetwas zu tun, das vielleicht (zufällig) wirkt, aber nicht erkennen lässt, welche Vor- und Nachteile das gewählte Vorgehen tatsächlich mit sich bringt.

Leicht erkennbar ist dieses Phänomen an der Forderung von Menschen nach Best Practices, Tipps, Beispielen, Empfehlungen (z.B. von Trainern und Beratern), Methoden (zur Lösung), Regeln (z.B. 3-5 Key Results pro Objective bei OKR), Checklisten, Rezepte, Pläne, u.v.a.m.

Selbst denken ist anstrengend und ermüdend – zugleich aber notwendig, um sich in der komplexen Welt erfolgreich zurecht zu finden und die tayloristische Sozialisierung hinter sich zu lassen.

Gerade in der Arbeit mit Kunden ist es daher essentiell und zeugt von der Professionalität und Qualität der Begleitung, wenn Berater:innen und Trainer:innen der Forderung nach schnellen Lösungen eben nicht symbiotisch nachkommen, sondern eben immer auch die zur Lösung passende Theorie vermitteln, damit der Kunde durch eigene Anstrengung auf eine davon abgeleitete und zur individuellen Lösung passende Praxis kommen kann.

Fazit: Theorie und Praxis als dynamisches Zusammenspiel

Am Ende zeigt sich, dass Theorie und Praxis untrennbar miteinander verbunden sind. Theorie formt unsere Praxis, und aus der Praxis gewinnen wir empirische Erkenntnisse, die wiederum die Theorie weiterentwickeln. Dieser dynamische Kreislauf ist die Grundlage für Fortschritt und Innovation. Wer die Theorie vernachlässigt, riskiert, unwirksame oder gar schädliche Handlungen vorzunehmen. Umgekehrt bleibt jede Theorie, die nicht in der Praxis erprobt wird, ein unvollendetes Gedankengebäude. Erst im Zusammenspiel entfalten beide ihre volle Wirkung.

In einer Welt, die immer komplexer wird, können wir es uns nicht leisten, Theorie und Praxis als Gegensätze zu betrachten. Stattdessen müssen wir lernen, beide als notwendige Partner in einem ständigen Dialog zu verstehen. Nur so können wir den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gerecht werden – und das ist keine bloße Meinung, sondern eine Schlussfolgerung, die sich aus fundierten wissenschaftlichen Überlegungen ergibt.

Ausführlicher gefällig? Diesen Artikel als ausführliches Video findest du hier: https://youtu.be/Cwfh-X6SD0k?si=PsZh1mQOBKl_ki_-

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Gerade in der heutigen komplexen und dynamischen Zeit, gerät unter anderem an einer spezifischen Stelle unser Weltbild aus den Fugen. Und zwar an der Stelle, ob wir Theorie oder Praxis brauchen, um ein Problem zu lösen. Viel zu schnell wird die Forderung nach Praxis zu Lasten der Theorie gestellt – und tappt damit in die „Aristotelische“ bzw. „Tayloristische“ Falle.