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Der blinde Fleck der Unterscheidung „kompliziert | komplex“ – oder warum Komplexität überall ist

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Einleitung

Die Unterscheidung „kompliziert | komplex“ ist ein zentraler Begriff im Verständnis von Organisationen und der modernen Führungsarbeit. Gerhard Wohland, einer der prominenten Vertreter der systemtheoretischen Sicht auf Organisationen, hat die Bedeutung dieser Unterscheidung immer wieder hervorgehoben. Diese Leitunterscheidung hilft dabei, zwei grundlegend verschiedene Arten von Problemen zu identifizieren: Komplizierte Probleme lassen sich mit technischem und analytischem Fachwissen lösen, während komplexe Probleme nicht vollständig vorhersehbar und von vielen sich ändernden Variablen geprägt sind. Die Vorstellung ist, dass komplizierte Probleme mit der richtigen Expertise beherrschbar sind, während komplexe Probleme eine flexible, lernende Herangehensweise erfordern.

Doch so nützlich diese Differenzierung auch sein mag, liegt in ihr auch ein Risiko: Die Unterscheidung zwischen kompliziert und komplex führt leicht dazu, dass Komplexität als etwas Äußeres betrachtet wird, das sich je nach Fall entweder abwenden oder gezielt bearbeiten lässt. Dabei wird übersehen, dass Komplexität ein konstanter Bestandteil aller Systeme und Situationen ist. Wohland weist darauf hin, dass in Organisationen ständig Komplexität ausgeblendet werden muss, um handlungsfähig zu bleiben – die Frage ist daher nicht, ob ein Problem komplex ist, sondern vielmehr, wie viel Komplexität in jeder Situation ausgeblendet werden kann, ohne die Realität zu stark zu verfälschen.

Die Leitunterscheidung: Kompliziert vs. Komplex

Die Unterscheidung zwischen komplizierten und komplexen Problemen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Kompliziert: Probleme mit klaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die durch Expertenwissen gelöst werden können. Es gibt eine oder mehrere richtige Lösungen, die analytisch oder technisch erarbeitet werden können.
  • Komplex: Probleme ohne eindeutig vorhersagbare Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die sich laufend verändern und bei denen Lösungen emergent entstehen. Hier gibt es keine „richtigen“ Lösungen, sondern Handlungsansätze, die flexibel angepasst werden müssen.

Gerhard Wohland erklärt, dass komplizierte Probleme in Organisationen oft durch erlernte Routinen, Standardprozesse und technische Verfahren bewältigt werden können. Komplexe Probleme hingegen erfordern eine agile, lernende Haltung, da sie durch eine hohe Unsicherheit und dynamische Wechselwirkungen gekennzeichnet sind. Die Herausforderung für Führungskräfte besteht darin, diese Unterschiede zu erkennen und ihre Handlungsweise anzupassen. Doch in der Praxis besteht der blinde Fleck darin, dass Organisationen dazu neigen, Komplexität als ein äußeres Merkmal der Situation zu betrachten und versuchen, diese nach Möglichkeit zu „reduzieren“.

Warum Komplexität nicht „wegorganisiert“ werden kann

Ein Missverständnis, das mit der Unterscheidung „kompliziert | komplex“ einhergeht, ist die Annahme, dass Komplexität aus der Umwelt entfernt oder minimiert werden kann. Komplizierte Probleme können häufig durch eine klare Analyse und Fachwissen in beherrschbare Teile zerlegt werden. Diese Herangehensweise führt leicht dazu, dass Führungskräfte und Organisationen versuchen, komplexe Probleme ebenfalls zu zerlegen und technisch zu lösen – nach dem Motto: „Wenn wir das Problem besser analysieren, wird es beherrschbar.“

Doch komplexe Probleme sind keine Puzzles, die durch Fleiß und Know-how zusammengesetzt werden können. Sie bestehen aus vernetzten, sich ständig verändernden Variablen, deren Wechselwirkungen in vielen Fällen nicht vollständig vorhersehbar sind. Die Unsicherheit in komplexen Situationen ist kein Defizit, sondern ein Grundmerkmal. Jede Organisation muss daher akzeptieren, dass Komplexität immer ein Teil der Realität ist und nicht „ausgeschaltet“ werden kann. Stattdessen geht es darum, herauszufinden, wie und wann man Komplexität ausblendet und welche Aspekte dabei möglicherweise übersehen werden.

Die Gefahr des „Scheins der Beherrschbarkeit“

Eine weitere Falle in der Unterscheidung zwischen kompliziert und komplex liegt in der Illusion der Beherrschbarkeit. Komplizierte Probleme erwecken den Eindruck, dass sie durch die richtige Methodik und genügend Fachwissen kontrollierbar sind. In Organisationen führt das häufig zu einem Denken, das als „Schein der Beherrschbarkeit“ bezeichnet wird: Der Glaube, dass man Komplexität durch geschickte Planung und Steuerung kontrollieren könnte, wenn man nur die „richtige“ Methode anwendet.

Diese Illusion kann besonders problematisch sein, wenn Organisationen auf komplexe Herausforderungen treffen, wie etwa sich schnell wandelnde Marktanforderungen, Kundenwünsche oder technologische Umbrüche. Führungskräfte, die davon ausgehen, dass jedes Problem in seine komplizierten Einzelteile zerlegt und kontrolliert werden kann, laufen Gefahr, wichtige Signale aus der Umwelt zu ignorieren und ihre Strategie an einer verzerrten Realität auszurichten.

Das tatsächliche Problem: Komplexität als ständiger Begleiter

Statt Komplexität als eine Art „Sonderfall“ anzusehen, wie es die Unterscheidung suggeriert, wäre es hilfreicher, Komplexität als allgegenwärtigen Faktor zu betrachten. Komplexität ist keine Eigenschaft, die nur in bestimmten Situationen oder Projekten auftaucht. Vielmehr ist sie ein konstanter Bestandteil jeder Umgebung und jedes Systems, der nur dadurch bewältigt werden kann, dass er selektiv ausgeblendet wird.

Wohland beschreibt diesen Prozess als „Selektion“, bei dem Organisationen bewusst entscheiden, welche Aspekte der Umwelt sie berücksichtigen und welche sie ausblenden. Ein einfaches Beispiel ist die Arbeit mit Checklisten: Checklisten bieten eine klare Struktur und reduzieren die Komplexität auf ein handhabbares Maß, indem sie eine Serie von Häkchen bieten, die „nur“ abgehakt werden müssen. Doch auch hier bleibt die Frage, ob die Checkliste wirklich die gesamte Komplexität der Situation einfängt oder ob wichtige Faktoren ausgeblendet wurden.

Der blinde Fleck der Fokussierung: Wann wird Komplexität zur Gefahr?

Führungskräfte müssen regelmäßig entscheiden, wie viel Komplexität sie in einer gegebenen Situation zulassen und wie viel sie durch Fokussierung ausblenden. Dies ist jedoch keine einfache Aufgabe, denn das Ausblenden von Komplexität birgt immer das Risiko, dass wesentliche Informationen verloren gehen. Wohland beschreibt diesen Punkt als „Risiko der Simplifizierung“: Je stärker man ein Problem auf bestimmte Aspekte reduziert, desto größer ist die Gefahr, dass relevante Faktoren übersehen werden.

Ein Beispiel ist die Entwicklung technischer Systeme: Ein Ingenieur kann das Design eines Fahrzeugs bis ins kleinste Detail planen und berechnen. Doch sobald das Auto in die reale Welt entlassen wird, spielen unzählige Faktoren eine Rolle – Fahrbahnverhältnisse, Wetter, Fahrverhalten –, die nicht mehr im technischen Design kontrolliert werden können. Ein technisches Problem mag sich also kompliziert lösen lassen, doch in der realen Anwendung wird die Situation sofort komplex.

Führung in einer komplexen Welt: Akzeptanz statt Illusion

Die Unterscheidung zwischen komplizierten und komplexen Problemen ist hilfreich, um unterschiedliche Arten von Herausforderungen zu verstehen. Doch Führungskräfte müssen die Grenzen dieser Differenzierung verstehen und anerkennen, dass Komplexität nicht „wegorganisiert“ oder kontrolliert werden kann. In einer dynamischen und sich ständig verändernden Welt ist es entscheidend, Komplexität als ständigen Begleiter zu akzeptieren und eine flexible, anpassungsfähige Haltung einzunehmen.

Statt zu versuchen, komplexe Situationen auf komplizierte Einzelteile zu reduzieren, sollten Führungskräfte den Mut haben, mit Unsicherheit und Unvollständigkeit zu arbeiten. Das bedeutet, auf emergente Muster zu achten, Entscheidungen kritisch zu hinterfragen und bereit zu sein, den Fokus neu auszurichten, wenn die Situation es erfordert. So können Organisationen langfristig besser auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren und ihre strategischen Entscheidungen an der tatsächlichen Realität – nicht an einer vereinfachten Vorstellung – ausrichten.

Fazit

Die Unterscheidung „kompliziert | komplex“ bietet wertvolle Einsichten, kann aber leicht zu einer Illusion der Beherrschbarkeit führen. Anstatt Komplexität als Ausnahmefall zu betrachten, sollten Organisationen erkennen, dass sie immer präsent ist und nur durch selektive Ausblendung temporär handhabbar wird. Führung bedeutet in diesem Sinne, die Balance zwischen Fokussierung und Offenheit zu halten und stets im Blick zu behalten, wann und wie viel Komplexität ausgeblendet werden kann – und wann die Realität zu komplex ist, um einfach „weggedacht“ zu werden.

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